Basisinformation Argentinien
- I. Innenpolitik
Kennzeichnend für die argentinische Innenpolitik ist das Fehlen eines gefestigten Parteiensystems mit klar umrissenen Programmen sowie die hohe Personalisierung. Seit 2003 beherrscht die Frente para la Victoria innerhalb der Peronistischen Partei (Partido Justicialista, PJ) unter dem Ehepaar Néstor und Cristina Kirchner das politische Geschehen. Néstor Kirchner (2003 – 2007) gelang es, das durch den Staatsbankrott 2001/02 schwer angeschlagene Land aus der Rezession und auf einen langfristigen Wachstumskurs zu führen. Cristina Fernández de Kirchner (seit Dez. 2007 Präsidentin) verspielte in kurzer Zeit aufgrund von Konflikten mit der Landwirtschaft, der Kirche und den Medien ihre hohe Popularität und verlor bei den Kongresswahlen im Juni 2009 die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments. Der überraschende Tod Néstor Kirchners im Oktober 2010 führte zu einer Welle der Sympathie für die Präsidentin, die seither unangefochtene Chefin der peronistischen Partei sowie Präsidentschaftskandidatin ist.
Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Oktober 2011, bei denen auch ein Teil des Parlaments neugewählt wird, ist vom hohen Vorsprung der derzeitigen Amstinhaberin in den Umfragen und den Zerfallerscheinungen der Opposition gezeichnet. Präsidentin Kirchner stellt sich mit dem derzeitigen Wirtschaftsminister Amado Boudou als Vizepräsident zur Wiederwahl. Die Opposition hingegen wird nach einigen gründlich mißglückten Versuchen, Wahlbündnisse einzugehen, und dem Rückzieher einiger politischer Schwergewichte[1] geschwächt in den Wahlkampf ziehen. Die meisten Umfragen geben dem Kandidaten der Radikalen Ricardo Alfonsín, Sohn des ersten demokratischen Präsidenten nach der Militärdiktatur Raúl Alfonsín, die besten Chancen. Ihm folgen der ehemalige Präsident Eduardo Duhalde und der Gouverneur der Provinz San Luís, Alberto Rodríguez Sáa, der Gouverneur von Santa Fe, Hermes Binner für die sozialistische Partei, und Elisa Carrió für eine bürgerliche Koalition.
Für das heurige Wahljahr ist mit einer Fortsetzung der bisherigen Politik zu rechnen: massiv steigende Staatsausgaben, die für eine Fülle von Sozialleistungen, einen aufgeblähten staatlichen Sektor, die Subventionierung von Verkehrsmitteln und Energie verwendet werden, und stark steigender privater Konsum. Risiken dieser Politik sind große soziale Spannungen zwischen gewerkschaftlich organisierten „privilegierten“ Arbeitern und solchen außerhalb des Systems, die zusehends prekäre Sicherheitslage, die hohe Inflation und die ausufernde Korruption nach zwei Amtsperioden.
Wirtschafts- und Finanzpolitik
Nach dem Staatsbankrott 2001/02 erholte sich die argentinische Wirtschaft dank steigender Rohstoffpreise und des niedrigen Wechselkurses rasch mit Wachstumsraten von rund 8,5% zwischen 2003 – 2008. Während die argentinische Wirtschaft 2009 aufgrund der beträchtlich gefallenen Preise für die Hauptexportgüter und einer Mißernte stagnierte, konnte 2010 nach offiziellen Angaben bereits wieder ein beachtliches Wachstum von 9,1% erzielt werden.
Zurückzuführen ist dieser Anstieg in erster Linie auf die gute Ernte und die hohen Nahrungsmittelpreise (Soja, Sojaöl, Weizen, Sonnenblumen, Biodiesel), sowie auf die steigende öffentliche und private Nachfrage (bei stark negativen realen Zinsen).
Schwachpunkt der Wirtschaftspolitik ist die Inflation, die 2010 gemäß privaten Analysten rund 26% betragen hat und im Wahljahr 2011 ebenso hoch ausfallen soll. Dies führt vor allem bei den Arbeitern des großen informellen Sektors zu Spannungen, da diese im Gegensatz zu den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern keinen vollen Lohnausgleich durchsetzen können und die Inflation vor allem bei Grundnahrungsmitteln besonders hoch ist.
Der Staatshaushalt und die Devisenbilanz sind auf hohe Einnahmen aus den Exportsteuern für Agrarprodukte angewiesen, die aufgrund der Rekordernte und der hohen Soja- und Getreidepreise derzeit reichlich sprudeln. Dennoch ist der fiskalische Überschuss zuletzt deutlich zurückgegangen, da die Staatsausgaben noch schneller angestiegen sind. Auch die Handelsbilanz verschlechtert sich – trotz massiver Import-Restriktionen – rasch, da der beinahe stabile Dollarkurs als Inflationsanker fungiert und daher die hohe Inflation fast ganz auf die Exportpreise durchschlägt.
Auslandsverschuldung
Hauptauslöser der Krise und des Defaults 2001 war das unhaltbare Zahlungsbilanzdefizit als Folge der Dollar-Parität des Pesos in den 90er Jahren. 2005 und 2010 wurden zwei Umschuldungsaktionen durchgeführt, bei der die Gläubiger einen starken Kapitaleinschnitt akzeptieren mussten. Dennoch konnten insgesamt ca. 92% der unbedienten Schulden umstrukturiert werden.
Weiterhin offen ist eine Einigung mit den im Pariser Klub vereinten staatlichen Geldgebern (nicht bediente Schulden von rund 6,7 Mrd. USD sowie Zins- und Pönalzahlungen in Höhe von ca. 2,5 Mrd. USD). Da sich Argentinien weiterhin weigert, eine Länderprüfung durch den IWF zu akzeptieren, was Voraussetzung für eine Umschuldung wäre, wird seit einiger Zeit über eine kurzfristige Begleichung der Schulden verhandelt. Es ist fraglich, ob Argentinien diese Verhandlungen noch vor den Wahlen im Oktober abschließen kann bzw. will. Bis zu einer solchen Einigung bleibt Argentinien der Zugang zu int. staatlichen Krediten verwehrt.
II. Aussenpolitik
Der Schwerpunkt der argentinischen Außenpolitik liegt auf den Beziehungen zu den MERCOSUR-Mitgliedstaaten und den restlichen Staaten Lateinamerikas, zur EU (vor allem Spanien und Frankreich), Nordamerika sowie China.
Brasilien ist der wichtigste Partner Argentiniens. Die Beziehungen zum „übergroßen“ Nachbarn sind durch einen latenten Minderwertigkeitskomplex und den enormen Handelsbilanzüberschuss Brasiliens belastet, der regelmäßig zu Spannungen führt.
Mit Uruguay waren die Beziehungen aufgrund einer finnischen Zellulosefabrik am Grenzfluss Uruguay, die diesen laut Argentinien verschmutzt, in den letzten Jahren stark belastet. Nach dem Amtsantritt von Präsident Mujica und einem salomonischen IGH Urteil konnte im Juli die Einsetzung einer gemeinsamen Umwelt-Expertenkommission vereinbart werden. Seither haben sich die Beziehungen weitgehend entspannt.
Venezuela: Präsident Chávez hat 2006 – 2008 im großen Umfang argent. Bonds aufgekauft. Venezuela liefert auch große Mengen an Erdöl und Gas, Argentinien im Gegenzug landwirtschaftliche Geräte und Produkte sowie Autos. Bei diesen Geschäften soll es zu hohen Schmiergeldzahlungen an regierungsnahe Stellen (in beiden Ländern) gekommen sein.
EU: Die Beziehungen zur EU als drittgrößtem Handelspartner (nach Brasilien und China) sind gut, wenn auch nicht intensiv. Ende Juni 2010 wurden die 2004 abgebrochenen Verhandlungen zwischen der EU und dem Mercosur wieder aufgenommen. In diesen ist Argentinien einerseits im Sinne einer Importsubstitutionspolitik auf den Schutz seiner Industrien und andererseits auf den Export von landwirtschaftlichen Produkten und Rindfleisch bedacht.
China: China hat nach den vorläufigen Zahlen für 2010 die EU als zweitgrößten Handelspartner verdrängt. Argentinien versucht derzeit, seine Exporte (hauptsächlich Sojaprodukte, andere Lebensmittel und Minerale) zu diversifizieren.
USA: Zusammenarbeit erfolgt hauptsächlich in den Bereichen Terrorbekämpfung und nukleare Sicherheit. Wegen enger Beziehungen zu Präsident Chávez sowie argentinischer Handelsbeschränkungen sind allerdings laufend politische Irritationen festzustellen.
Falkland Islands (argent.: Malvinas): Argentinien hat die britische Souveränität über die Inseln nie akzeptiert und beansprucht diese als integralen Bestandteil seines Staatsgebietes. Dem Thema kommt, nicht zuletzt aufgrund des verlorenen Krieges 1982, hohe politische Sensibilität zu. Der Konflikt, den Argentinien regelmäßig in internationale Foren trägt, hat sich wieder zugespitzt, als britische Firmen zu Beginn 2010 Ölbohrungen vor den Falkland Inseln begannen.
III. Bilaterale BEZIEHUNGEN
- i. Abkommen
1980 Abkommen über wirtschaftl. und industrielle Zusammenarbeit (BGBl. 131/1980)
1994 Investitionsschutzabkommen (BGBl. 893/1994)
1997 Memorandum of Understanding über politische Konsultationen
2008 Luftverkehrsabkommen
2010 Abkommen über wissenschaftliche Zusammenarbeit
Das seit 1983 in Kraft befindliche Doppelbesteuerungsabkommen wurde von Argentinien Ende Juni 2008 aufgekündigt; am 1. Jänner 2009 trat es außer Kraft. Grund war ein behauptetes Steuerschlupfloch für argentinische Investoren. Im Mai 2010 wurden Verhandlungen über ein neues Abkommen aufgenommen.
- ii. Besuchsaustausch (seit 2008)
Mai 2008 Offizieller Besuch von Bundeskanzler Gusenbauer in Buenos Aires
Juni 2008 Vize-AM Taccetti zu Politischen Konsultationen in Wien
Sept. 2008 Gespräch von HBP Fischer mit Präsidentin Fernández de Kirchner am
Rande der VN-GV in New York
Juli 2009 Inoffizieller Besuch einer FPÖ Parlamentarierdelegation
Mai 2010 Besuch von HBM Dr. Spindelegger
März 2011 Besuch einer FPÖ-Delegation unter Leitung des 3. NR. Präsidenten Dr. Graf
iii. Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen (Quelle: Statistik Austria)
Argentinien ist derzeit – nach Brasilien, Chile und Mexiko – Österreichs viertwichtigster Exportmarkt in Lateinamerika.
Österr. Exporte 2010: € 121,84 Mio. (+48,7% gegenüber Vorjahreszeitraum)
Österr. Importe 2010: € 128,93 Mio. (+19,2% gegenüber Vorjahreszeitraum)
Wichtigste Einfuhrwaren aus Österreich: Maschinen und Anlagen, Kfz und Kfz-Teile, pharmazeutische Erzeugnisse, chemische Produkte, elektrotechnische Waren, Spielzeug, Unterhaltungsartikel, Sportgeräte
Wichtigste Ausfuhrwaren nach Österreich: Leder, Soja-Rückstände (Tierfutter), Fleisch, Früchte und Gemüse, pharmazeutische Erzeugnisse, Ölsaaten
Derzeit sind 25 österreichische Firmen mit eigenen Niederlassungen in Argentinien vertreten; über 300 österreichische Firmen werden von lokalen Vertretern betreut.
iv. Kultur
2011 unterstützte die Botschaft drei erfolgreiche Konzerte des Trio Alba in Ushuaia und Buenos Aires, eine Lesung aus Büchern von Fritz Kalmar sowie das internationale Kolloquium zur Integration deutschsprachiger Auswanderer in Argentinien. Im Zuge der EU-Filmwochen in Argentinien wurde der Film „Plastic Planet“ von Werner Boote gezeigt. Österreich spendete 200 Bücher für den Bücherturm zum Anlass „Buenos Aires: Welthauptstadt des Buchs“.
v. Konsularisches
Insgesamt verfügt die Botschaft über rund 5.900 Pass-Österreicher Akten, tatsächlich leben aber weit mehr ÖsterreicherInnen in Argentinien. Die der Botschaft bekannte „Österreicher-Kolonie“ setzt sich aus drei Gruppen zusammen:
- Auswanderung zur Zeit der Monarchie und frühe 1. Republik
- Opfer des Nationalsozialismus vor und nach dem Anschluss; Nationalsozialisten
- in den 50er Jahren Immigration aus ökonomischen Gründen
Viele AÖ sprechen noch Deutsch und haben noch verwandtschaftliche oder sentimentale Beziehungen nach Österreich. Allerdings haben viele von ihnen durch die Annahme der argent. Staatsangehörigkeit die österr. Staatsbürgerschaft verloren.
Überlebende und Nachkommen vorwiegend jüdischer Holocaust-Opfer in Argentinien werden auf rund 650 geschätzt. Es wurden ca. 500 Anträge an National- und Versöhnungsfonds gestellt; die meisten pauschalierten Entschädigungssummen wurden mittlerweile im Wege der Botschaft ausbezahlt.
2010 wurden knapp € 109.000 aus dem AÖ-Fonds an 140 Empfänger ausbezahlt.
Derzeit zwei Haftfälle.
vi. Entwicklungszusammenarbeit
keine